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Flüchtlingskrise: Was Europa von Südafrika lernen kann

Südafrika beherbergt mehr Asylbewerber als ganz Europa. Was läuft in Europa schief?

Was sind die Grundzüge liberalen Denkens? Und wie wenden wir sie auf die grossen Herausforderungen unserer Zeit wie die Flüchtlingskrise an? Im Zentrum des liberalen Denkens steht das Individuum. Eine Einsicht, die sich in der Magna Charta vor 800 Jahren herausgebildet und zum liberalen Verständnis weiterentwickelt hat, gemäss dem der Staat die Aufgabe hat, die Rechte und Freiheiten jedes Einzelnen zu schützen, und die Regierung dem Volk Rechenschaft schuldig ist.

«Freiheit, Fairness, Möglichkeiten» sind schöne Schlagworte – doch wie können sie in Politik umgesetzt werden?

Der Kulminationspunkt des liberalen Ideals ist, dass ein jeder Mensch die Freiheit und die Möglichkeiten besitzt, sich zu verwirklichen. Das erfordert einen Verfassungsrahmen, der die Grundrechte, die Rechtsstaatlichkeit und die Gleichheit vor dem Gesetz garantiert. Es erfordert einen leistungsfähigen Staat, Gewaltenteilung, freie Marktwirtschaft und Individuen, die verstehen, dass persönliche Freiheit mit staatsbürgerlicher Verantwortung einhergehen muss. Es erfordert Individuen, die Probleme mit einem Verständnis dessen angehen, was der Philosoph Karl Popper «Falsifizierbarkeit» nannte: Wir müssen offen gegenüber Beweisen und Argumenten sein, die der eigenen Position widersprechen.

Die Democratic Alliance, die grösste Oppositionspartei Südafrikas, der ich angehöre, fasst die liberalen Grundwerte in die drei Worte: «Freiheit, Fairness, Möglichkeiten». Eine entsprechende Politik zu verfolgen, ist ziemlich schwierig.

Fundamentalismus, Terrorismus, Klimawandel, Finanzkrise, Massenmigration – die grossen Herausforderungen können von den Ländern nicht mehr innerhalb ihrer Grenzen gelöst werden. Es braucht globale Lösungen – und somit eine völlig neue Art und Weise, die Probleme politisch anzugehen. Wenn wir Liberalen diese Suche nach globalen Lösungen nicht anführen, wer dann?

Sind Europas Liberale in erster Linie Nationalisten?

Mich überrascht immer wieder, wie stark die europäischen Liberalen die globalen Herausforderungen durch das Prisma des ethnischen Nationalismus betrachten. Sie nehmen an, dass der Einzelne in der Lage sein sollte, seine vollen Rechte und Freiheiten innerhalb der Grenzen eines Staates wahrzunehmen (seinem Nationalstaat), aber nicht unbedingt jenseits dieser Grenzen. Diese Unterscheidung wird als «gegeben» angenommen, als handle es sich um ein Naturgesetz wie die Schwerkraft.

Das gilt es zu hinterfragen. Wie kommen wir dem Ideal einer Welt näher, in der ein jeder die Freiheit und Möglichkeit zur Selbstverwirklichung besitzt, egal, wo er geboren ist? Die traurige Wahrheit ist, dass wir uns im Jahr 2015 von diesem Ideal immer weiter entfernen. Das belegt die explodierende Zahl von Menschen auf der Flucht, die im letzten Jahr von 51,2 auf 59,5 Millionen angewachsen ist. Laut dem Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) ist einer von 122 Menschen heute entweder ein Flüchtling, ein Binnenvertriebener oder ein Asylsuchender.

Das UNHCR spricht in seinem jüngsten Bericht von einem «Zeitalter beispielloser Massenvertreibungen» und ruft auf zu «beispielloser humanitärer Hilfe und globalem Engagement». Aber einen kohärenten Plan, wie die grossen Worte in Taten umgesetzt werden können, bleibt es schuldig. Und die Ad-hoc-Reaktionen, wenn wieder Tausende von Flüchtlingen an den Küsten europäischer Länder landen oder an den Grenzen abgeladen werden, generieren qualvolle Debatten, aber kaum koordinierte Antworten.

Zufluchtsuchende aufzunehmen reicht nicht

Wir müssen das Problem bei der Wurzel packen und dürfen nicht bloss die Symptome bekämpfen. Über die «Pull-Faktoren», die diese Migranten zu offenen, freien Gesellschaften ziehen, sollten wir hinausblicken auf die «Push-Faktoren», die ihre Möglichkeiten in korrupten, autoritären oder fundamentalistischen Regimen beschränken.

Die Zufluchtsuchenden aufzunehmen, ist eine notwendige, aber unzureichende Antwort. Die Verfolgung der «Menschenhändler», die das Elend dieser Menschen ausnutzen, löst das Problem kaum. Erst recht nicht für jene Verzweifelten, die bereit sind, jeden Preis zu bezahlen, um ihrer Situation zu entkommen. Die Debatte muss stärker darauf fokussieren, was die internationale Gemeinschaft unternehmen kann (und sollte), um die Menschenrechtsverletzungen autoritärer Regime einzudämmen und die Freiheiten und Möglichkeiten der Menschen auszudehnen, wo auch immer sie leben, damit sie eine echte Alternative und Perspektiven haben.

Die Menschen, die ihren Lebensumständen zu entfliehen suchen, fallen völkerrechtlich in verschiedene Kategorien. Als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 gelten nur jene, deren persönliche Sicherheit und körperliche Freiheit aus politischen/ethnischen oder religiösen Gründen bedroht sind. Millionen von Menschen, die keiner solchen Bedrohung ausgesetzt sind, suchen dennoch grössere Freiheit und bessere Chancen.

Unterscheidung zwischen Asylsuchenden und Wirtschaftsflüchtlingen verschwimmt

Doch die Unterscheidung zwischen Flüchtlingen, Asylsuchenden und Wirtschaftsmigranten verschwimmt immer mehr. Liberale, gerade in der Ersten Welt, stellt das vor ein politisches und moralisches Dilemma. Denn seit Jahrzehnten beherbergen die ärmsten Länder den Grossteil der Menschen, die vor repressiven oder autoritären Regimen geflohen sind. «Die überwältigende Mehrheit, 86 Prozent der Vertriebenen, leben heute in Entwicklungsländern, die am wenigsten in der Lage sind, sie zu unterstützen», hielt die «New York Times» kürzlich fest. «Nur wenn diese menschliche Flut jeweils über die Grenzen der Dritten Welt schwappt, beginnen die reichen Nationen panisch nach Abhilfe zu suchen.»

Im laufenden Jahr sind bereits mehr als 100 000 Migranten aus Nordafrika nach Südeuropa gelangt, manchmal bis zu 1000 pro Tag – unter ihnen auch unbegleitete Kinder und Jugendliche. Und die einzigen ernsthaft diskutierten «Lösungen» bisher waren, dass «Menschenhändler» daran gehindert werden sollen, die Küsten Nordafrikas mit ihrer menschlichen Fracht zu verlassen; oder dass die Glücklosen vor dem Ertrinken im Mittelmeer gerettet werden und nach Quoten verschiedenen europäischen Ländern zugeteilt werden sollen, um «die Last zu verteilen».

Europa hat illiberal reagiert

Viele Europäer haben illiberal auf diese Herausforderung reagiert, und sie hat die Reihen der rechtspopulistischen und nationalistischen Parteien anschwellen lassen. Selbst in Ländern, die die individuellen Rechte und Freiheiten hochhalten, fallen die Menschen leicht in ethnischen Nationalismus zurück.

Die Kritiker der liberalen Position gegenüber Asylbewerbern und Wirtschaftsmigranten stellen einige schwierige Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Wie zum Beispiel können offene Gesellschaften den Zustrom von Menschen überstehen, die nicht nur nach wirtschaftlichen Möglichkeiten und Vorteilen suchen, sondern auch ihre politischen, kulturellen und religiösen Praktiken mitbringen, die oft sehr illiberal sind und eine fundamentale Bedrohung der Grundfreiheiten darstellen können? Eine andere schwierige Frage, mit der sich die Liberalen nicht genügend auseinandergesetzt haben: Wie kann die internationale Gemeinschaft, wie kann ein einzelnes Land Sprache, Kultur, Riten und Bräuche bewahren, ohne in Nationalismus abzugleiten?

Ausserhalb Europas sind die Fragen noch fundamentaler: Wie kann ein Land wie Südafrika mit einer offiziellen Arbeitslosenquote von 25 Prozent einen liberalen Ansatz gegenüber Asylsuchenden vertreten, wenn die Einheimischen diese zunehmend als wirtschaftliche Bedrohung empfinden? Ironischerweise reagieren gerade Schwellenländer auf Migranten und Asylbewerber in einer Art, die mit dem Liberalismus eher vereinbar ist als die Antworten in der sogenannten Ersten Welt.

Südafrika als Vorbild für Europa

In den meisten europäischen Ländern werden Migranten und Asylbewerber in Lagern gehalten, ohne dass sie das Recht haben zu arbeiten, so dass die Vision eines besseren Lebens so flüchtig bleibt wie in ihrer Heimat. Da haben es Asylbewerber in Südafrika leichter.

Das südafrikanische Flüchtlingsgesetz von 1998 erlaubt es jedem Ausländer, der nach Südafrika gelangt (egal, ob auf legalen oder illegalen Wegen), sich in einer Flüchtlingsempfangsstelle als Asylsuchender registrieren zu lassen. Er erhält dann eine Asylbewerber-Nummer, die es ihm erlaubt, viele Rechte und Freiheiten wie Einheimische zu geniessen – nicht zuletzt die Bewegungsfreiheit, das Recht zu arbeiten und die Möglichkeit, öffentliche Einrichtungen wie Spitäler und Schulen zu benutzen. Verwehrt bleibt ihm das Recht, zu wählen, eine Partei zu gründen oder Sozialleistungen zu beziehen.

Der südafrikanische Ansatz kommt dem liberalen Ideal näher als die Strategien der meisten anderen Länder. Er hat aber unbeabsichtigte Folgen, die für ein Schwellenland nur schwer zu bewältigen sind. Es ist so, wie das Sprichwort sagt: Die Theorie sollte in der Praxis theoretisch funktionieren, aber praktisch tut sie es nicht. Das grösste Problem: Es ist jetzt einfacher, auf illegalem als auf legalem Weg einzureisen.

Während registrierte Asylsuchende sofort das Recht erhalten, sich in Südafrika frei zu bewegen und einen Job zu suchen, beschränkt die «Immigration Act» die legale Einwanderung stark: Der Rechtsstaat hat Bedingungen geschaffen, die es den Menschen leichtermachen, ihr Ziel durch Bruch statt durch Einhaltung der Gesetze zu erreichen. Das bedroht den Rechtsstaat ebenso wie das liberale Ideal. Die Tür für korrupte Praktiken wie das Fälschen von Ausweispapieren und Dokumenten, die es Migranten ermöglichen, Sozialleistungen zu beziehen oder staatlich subventionierte Häuser zu kaufen, wurde weit geöffnet.

Die Folgen der südafrikanischen «Politik der offenen Tür»

Die Folge dieser «Politik der offenen Tür» ist eine Flut von Migranten aus dem südlichen Afrika. Drei bis sieben Millionen Menschen haben sich laut Schätzungen in Südafrika als Asylsuchende registrieren lassen. Es ist unmöglich, genaue Zahlen zu liefern, weil die Menge der Menschen die Kapazität des Systems gesprengt hat. Die Konsequenz davon ist, dass viele Menschen (zum Beispiel solche, deren Asylantrag abgelehnt worden ist) einfach in Südafrika bleiben (oder illegal zurückkehren) und unter dem Radar des Systems leben und arbeiten.

Die grosse Mehrheit der Migranten hat aber offiziell um Asyl ersucht. Sind sie einmal registriert, verstreicht oft mehr als ein Jahrzehnt, bevor die Behörde ihren Fall behandelt, um den Flüchtlingsstatus zu bestimmen. 90 Prozent der Anträge werden abgewiesen. Das zeigt, wie stark das Asylbewerber-System von Leuten benutzt wird, die juristisch nicht die internationalen Kriterien erfüllen.

Bei Ablehnung des Antrags kann der Asylsuchende einen Rekursprozess in Gang setzen, der normalerweise viele Jahre dauert. Der Rückstau könnte massiv reduziert werden, wenn Südafrika seine Einwanderungsgesetze liberalisieren und es Fachkräften leichtermachen würde, auf legalem Weg einzuwandern und eine Arbeit anzunehmen. Fakt ist, dass Südafrika alle Fachkräfte, die es bekommen kann, brauchen kann. Die qualifizierten Einwanderer sind in der Regel unternehmerisch und arbeitsam. Viele von ihnen bauen Unternehmen auf und schaffen Arbeitsplätze.

Studien einer liberalen Denkfabrik in Johannesburg und Witbank haben ergeben, dass Asylsuchende weit weniger häufig arbeitslos werden als Südafrikaner. Arbeitgeber in verschiedenen Wirtschaftssektoren, vom Tourismus über die Sicherheit bis hin zur Landwirtschaft, beschäftigen lieber qualifizierte Asylbewerber als arbeitslose, ungelernte Einheimische. Zwar kommt es periodisch zu fremdenfeindlichen Ausbrüchen, aber keine grössere Partei setzt auf einen populistischen Nationalismus.

Xenophobe Eruptionen hier, rechte Populisten da

Europäer verurteilen die xenophoben Eruptionen in Südafrika jeweils harsch. Das ist verständlich, aber wie würden sie in vergleichbaren Situationen reagieren? Sie stemmen sich dem Einwanderungsdruck heute mit illiberalen Regelungen entgegen. Der Aufstieg rechter Populisten in Europa, die die Ängste vor dem Fremden ausbeuten, bedroht die liberalen Ideale nicht weniger als die intoleranten, fundamentalistischen und nationalistischen Regime. Umso dringlicher müssen wir nach liberalen Lösungen für die schrumpfende Welt und die sich beschleunigende Globalisierung suchen. Die Menschenrechte müssen ausgedehnt, nicht eingeschränkt werden. Internationale Institutionen wie die Vereinten Nationen und die Afrikanische Union sollten die Führung dabei übernehmen.

Eine liberale Reaktion auf die Notlage der Flüchtlinge tut not. Aber noch viel wichtiger ist es, der wachsenden Gefahr autoritärer Diktaturen etwas entgegenzusetzen. Trotz einigen Anstrengungen (etwa jenen des Internationalen Strafgerichtshofs, Massenmörder zu belangen) waren die bisherigen Bemühungen, der Tyrannei Einhalt zu gebieten, weitgehend erfolglos. Die internationale Kooperation scheitert allzu oft am ethnischen Nationalismus.

Auch Südafrika verhält sich widersprüchlich

Die Widersprüchlichkeit der südafrikanischen Politik zeigt sich hier krass. Die Regierung in Pretoria beklagt zwar die steigenden Asylbewerberzahlen, doch sie unternimmt nichts, um die Migranten dazu zu bewegen, ihr Glück anderswo zu suchen. Und vor kurzem hat sie den sudanesischen Staatspräsidenten Omar al-Bashir vor Ergreifung bewahrt, obwohl ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs wegen Kriegsverbrechen gegen ihn vorlag und das oberste Gericht Südafrikas seine Verhaftung angeordnet hatte. Die Beweise mehren sich, dass südafrikanische Regierungsmitglieder al-Bashir, der zu einem Gipfel der Afrikanischen Union (AU) angereist war, entkommen halfen – mit einer Sicherheitseskorte zu einem Militärflugplatz.

Al-Bashir wird verantwortlich gemacht für den Tod von 300 000 Menschen und die Vertreibung von 2,5 Millionen Menschen aus Darfur. Doch statt die internationalen Bemühungen zu unterstützen, diesen Kriegsverbrecher zur Verantwortung zu ziehen, schützt die südafrikanische Regierung ihn vor der internationalen Justiz. Die AU war offenkundig Komplizin bei diesem Bemühen – ein weiterer Beleg für das Versagen dieser Organisation, die Umstände anzugehen, die in Afrika jedes Jahr zu Millionen von Vertriebenen führen.

Die AU kritisiert gern, dass die Menschenrechte der Afrikaner mit Füssen getreten würden. Da sollte sie eigentlich mit gutem Beispiel vorangehen und sich gegen die Diktatoren und Unterdrücker auf dem gesamten Kontinent stellen. Die Aussicht, dass dies geschieht, ist gering. Denn es ist für die Tyrannen auf dem Kontinent leicht, sich in einer nationalistisch verbrämten Allianz zu einigen. Darum haben die Bemühungen, sie nach internationalen Standards zur Verantwortung zu ziehen, bisher wenig Erfolg gezeitigt.

Das widerspricht dem liberalen Verständnis, dass Führungskräfte einer Rechenschaftspflicht unterliegen. Der nächste Schritt der Liberalen weltweit muss es deshalb sein, wirksame Instrumente zu entwickeln, um Tyrannen und Regime, die die grundlegenden Menschenrechte ihrer Bürger missachten, unter Druck zu setzen.

Der von den USA geführte «Krieg gegen den Terror» kann nicht der einzige Weg sein. Er ist oft kontraproduktiv. Wir müssen internationale Institutionen auf diesem Gebiet einsetzen, am besten gleich in Afrika, dem Kontinent, der die Mehrheit der Flüchtlinge und Asylsuchenden weltweit hervorbringt.

Helen Zille ist seit 2009 Regierungschefin der südafrikanischen Provinz Westkap, bis letzten Mai leitete die deutschstämmige Politikerin auch die Democratic Alliance (DA). Dieser Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Referats, das sie am internationalen Liberalismus-Symposium am 13. Juni in Zürich hielt. Übersetzung aus dem Englischen: mak.

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